Zwischen Vertrauen und Risiko- Wie sicher ist unsere medizinische Versorgung?
Schadensersatzforderungen aufgrund von Behandlungsfehlern in Deutschland
Anzahl der gemeldeten Behandlungsfehler und Schadensersatzforderungen
- Laut dem „Bericht der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen“ der Bundesärztekammer wurden im Jahr 2022 insgesamt etwa 10.200 Anträge auf Begutachtung von vermuteten Behandlungsfehlern gestellt.
- Bei rund 3.800 Fällen wurde ein Behandlungsfehler bestätigt. Das entspricht etwa 37% der geprüften Fälle. In rund 2.100 Fällen führte der Fehler zu einem Gesundheitsschaden, der eine Haftung des Arztes oder Krankenhauses begründete.
Häufigste Fehlerbereiche
Höhe der Schadensersatzzahlungen
- Im Durchschnitt zahlen Ärzte und Krankenhäuser in bestätigten Fällen von Behandlungsfehlern etwa 50.000 bis 100.000 Euro an Schadensersatz. Dieser Betrag kann jedoch je nach Schwere des Schadens deutlich variieren.
- Bei schwerwiegenden Fällen, die zu dauerhaften Schäden, Invalidität oder Todesfällen führen, können Schadensersatzzahlungen mehrere hunderttausend bis über eine Million Euro betragen.
- Nach Angaben des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) betrugen die insgesamt geleisteten Entschädigungen für Behandlungsfehler im Jahr 2022 rund 400 Millionen Euro. Dieser Betrag setzt sich aus Schadensersatzzahlungen, Schmerzensgeld und Rentenzahlungen zusammen.
Versicherungsfälle
- Ärzte und Kliniken sind in der Regel haftpflichtversichert, sodass Schadensersatzforderungen oft durch Versicherungen abgedeckt werden. Die durchschnittliche Zahl der Versicherungsfälle im Zusammenhang mit Behandlungsfehlern liegt bei etwa 15.000 bis 20.000 Fällen pro Jahr.
- Besonders teuer sind die Fälle, in denen lebenslange Folgekosten übernommen werden müssen, etwa bei Fehlbehandlungen, die zu dauerhaften Behinderungen führen.
Verlauf der Schadensersatzforderungen in den letzten Jahren
- In den letzten Jahren ist die Zahl der gemeldeten Behandlungsfehler relativ stabil geblieben, jedoch sind die durchschnittlichen Entschädigungssummen gestiegen. Dies liegt daran, dass insbesondere schwerwiegende Fehler besser erfasst werden und die Schadensersatzansprüche entsprechend höher ausfallen.
Welche neuen Erkenntnisse und Entwicklungen zum Thema Patientensicherheit gibt es?
In den letzten Jahren hat sich das Thema Patientensicherheit durch verschiedene Forschungsarbeiten, Studien und Projekte kontinuierlich weiterentwickelt. Hier sind einige der neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen im Bereich Patientensicherheit:
Bedeutung der digitalen Transformation
- Die digitale Transformation des Gesundheitswesens spielt eine immer größere Rolle bei der Verbesserung der Patientensicherheit. Elektronische Gesundheitsakten (eGA), Telemedizin und digitale Fehlermeldesysteme ermöglichen eine effizientere Dokumentation, Kommunikation und Fehlervermeidung.
- Studien zeigen, dass die Implementierung elektronischer Medikationspläne das Risiko von Medikationsfehlern um bis zu 60% reduzieren kann, da Wechselwirkungen besser erkannt und Dosierungsfehler vermieden werden.
Verbesserung der Kommunikation und Teamarbeit
- Eine der häufigsten Ursachen für Behandlungsfehler sind Kommunikationsprobleme zwischen medizinischem Personal. Neue Studien betonen die Wichtigkeit von standardisierten Übergabeprotokollen und regelmäßigen Kommunikationstrainings, um Missverständnisse und Informationsverluste zu vermeiden.
- „SBAR“ (Situation, Background, Assessment, Recommendation) ist ein Kommunikationsmodell, das inzwischen in vielen Einrichtungen eingesetzt wird, um Informationen klar und strukturiert weiterzugeben.
Patientenbeteiligung und Sicherheitskultur
- Es gibt immer mehr Belege dafür, dass die Einbindung von Patienten in den Behandlungsprozess die Sicherheit erhöht. Patienten, die aktiv Fragen stellen und sich an Entscheidungsprozessen beteiligen, tragen dazu bei, Fehler zu erkennen und zu verhindern.
- Gesundheitsorganisationen, die eine offene Fehlerkultur pflegen, in der Fehler und Beinahe-Fehler ohne Angst vor Bestrafung gemeldet werden können, haben signifikant niedrigere Fehlerquoten. Diese Erkenntnis hat dazu geführt, dass immer mehr Einrichtungen ein „CIRS“ (Critical Incident Reporting System) einführen.
Künstliche Intelligenz (KI) und Datenanalysen
- Künstliche Intelligenz (KI) wird zunehmend eingesetzt, um Risiken frühzeitig zu erkennen. KI-gestützte Systeme können beispielsweise in Echtzeit Vitaldaten von Patienten überwachen und frühzeitig auf Anomalien hinweisen, was das Personal bei der Entscheidungsfindung unterstützt.
- KI-Analysen ermöglichen es, große Mengen an Patientendaten auszuwerten und so potenzielle Risikofaktoren für Behandlungsfehler zu identifizieren.
Nosokomiale Infektionen
- Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass Infektionen, die in Krankenhäusern (nosokomiale Infektionen) auftreten, immer noch ein erhebliches Sicherheitsproblem darstellen. Neue Strategien, wie der verstärkte Einsatz von Händedesinfektion, die Implementierung strenger Hygieneprotokolle und der Einsatz von UV-Desinfektionstechnologien, haben jedoch zu einer messbaren Verringerung dieser Infektionen geführt. Wichtige Utensilien stellen die Persönliche Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel für das Personal im Gesundheitseinrichtungen dar um mögliche nosokomiale Infektionen vermeiden.
Für welche Einrichtungen gelten diese Erkenntnisse?
Die oben genannten Erkenntnisse zur Verbesserung der Patientensicherheit gelten für eine Vielzahl von Gesundheitseinrichtungen:
Krankenhäuser: Krankenhäuser sind besonders anfällig für Patientensicherheitsrisiken, da hier komplexe medizinische Eingriffe durchgeführt werden und viele verschiedene Abteilungen interagieren. Die Anwendung von Checklisten, digitalen Dokumentationssystemen und Fehlermeldesystemen ist hier besonders wichtig.
Arztpraxen und ambulante Einrichtungen: Auch in ambulanten Einrichtungen gibt es Risiken für Behandlungsfehler. Hier spielt die genaue Dokumentation der Patientenhistorie, die Kommunikation zwischen verschiedenen Ärzten und die sichere Verschreibung von Medikamenten eine große Rolle. Fehlermeldesysteme werden in diesem Bereich ebenfalls zunehmend eingeführt.
Pflegeeinrichtungen:In Pflegeheimen und betreuten Wohneinrichtungen sind Medikationsfehler und Stürze häufige Sicherheitsprobleme. Digitale Medikationspläne, Schulungen des Pflegepersonals und Maßnahmen zur Sturzprävention tragen zur Verbesserung der Sicherheit bei.
Rehabilitationseinrichtungen: In Rehabilitationszentren, wo Patienten oft längerfristig betreut werden, sind genaue Dokumentationen und eine kontinuierliche Überwachung des Rehabilitationsprozesses entscheidend für die Patientensicherheit.
Apotheken: Auch Apotheken tragen zur Patientensicherheit bei, indem sie Wechselwirkungen von Medikamenten prüfen und Patienten über korrekte Einnahmen beraten. Digitale Systeme helfen dabei, Fehler bei der Ausgabe von Medikamenten zu vermeiden.
Telemedizinische Dienste: Durch den zunehmenden Einsatz von Telemedizin müssen auch hier Standards für die Patientensicherheit eingehalten werden. Die Vertraulichkeit von Patientendaten, genaue Diagnosen auf Basis digitaler Daten und eine klare Kommunikation mit den Patienten sind entscheidend.
Welche Maßnahmen werden derzeit ergriffen?
Fehlermeldesysteme genauer beschrieben
Fehlermeldesysteme sind zentrale Werkzeuge zur Erfassung und Analyse von Behandlungsfehlern und Beinahe-Fehlern. Diese Systeme sollen das medizinische Personal ermutigen, Fehler oder Beinahe-Fehler (Situationen, die fast zu einem Schaden geführt hätten) anonym zu melden, ohne Angst vor Sanktionen oder negativen Konsequenzen haben zu müssen. Das Ziel ist es, aus diesen Vorfällen zu lernen und systematische Verbesserungen einzuführen.
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Beispiele für Fehlermeldesysteme:
- CIRS (Critical Incident Reporting System): Eines der bekanntesten Fehlermeldesysteme in Deutschland ist das „CIRS – Critical Incident Reporting System“. Es wird in vielen Krankenhäusern eingesetzt und ermöglicht es dem Personal, kritische Vorfälle zu melden, die anonym ausgewertet werden. Die gewonnenen Erkenntnisse werden genutzt, um Sicherheitslücken zu erkennen und Präventionsmaßnahmen zu entwickeln.
- PaSIS (Patientensicherheits-Informationssystem): Dieses System ist ein bundesweites Angebot, das sowohl ambulante als auch stationäre Gesundheitseinrichtungen nutzen können. Es ermöglicht eine branchenübergreifende Meldung von Beinahe-Fehlern und kritischen Vorfällen, sodass auch intersektorale Lernprozesse entstehen können.
Schulungen zur Patientensicherheit
Regelmäßige Schulungen sind ein wichtiger Baustein, um das Bewusstsein und die Kompetenz des medizinischen Personals in Bezug auf Patientensicherheit zu erhöhen. Diese Schulungen helfen, die Fehlerkultur zu verändern, Risiken frühzeitig zu erkennen und angemessen zu handeln.
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Inhalte der Schulungen:
- Simulationstrainings: Mithilfe von realitätsnahen Simulationen werden typische Risikosituationen durchgespielt. Das medizinische Personal lernt, in einem sicheren Umfeld mit potenziell gefährlichen Situationen umzugehen, z. B. Notfallsituationen oder die Anwendung neuer Technologien.
- Kommunikationstrainings: Kommunikationsfehler sind eine der häufigsten Ursachen für Behandlungsfehler. Schulungen zur Kommunikation helfen dem medizinischen Personal, klar und präzise Informationen weiterzugeben, insbesondere bei der Übergabe von Patienten von einer Abteilung zur anderen.
- Sicherheitsbewusstsein und Fehlerkultur: In Schulungen wird vermittelt, wie wichtig es ist, Fehler zu melden und aus ihnen zu lernen, anstatt sie zu vertuschen.
Checklisten und standardisierte Arbeitsabläufe
Checklisten und standardisierte Arbeitsabläufe sind effektive Instrumente, um menschliche Fehler zu reduzieren. Sie stellen sicher, dass alle erforderlichen Schritte in einem Behandlungsprozess eingehalten werden, und minimieren das Risiko, wichtige Aspekte zu übersehen.
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Beispiele für Checklisten:
- WHO-Sicherheitscheckliste für Operationen: Diese Checkliste umfasst mehrere Abschnitte, die vor, während und nach einer Operation abgearbeitet werden müssen. Dazu gehören beispielsweise die Überprüfung der Identität des Patienten, der Operationsort und die Verfügbarkeit von Instrumenten.
- Medikationschecklisten: Diese Checklisten helfen dabei, die richtige Medikamentendosierung, Verabreichungszeit und -art sowie potenzielle Wechselwirkungen zu prüfen.
- Standardisierte Arbeitsabläufe: Hierbei handelt es sich um festgelegte Prozesse, die von allen Mitarbeitern einzuhalten sind. Beispiele sind Protokolle für den Umgang mit Hochrisikomedikamenten oder festgelegte Abläufe für die Patientenidentifikation.
Moderne Technologien wie die elektronische Gesundheitsakte (eGA)
Die elektronische Gesundheitsakte (eGA) ist ein digitales System, das alle wichtigen Gesundheitsinformationen eines Patienten zentral speichert und zugänglich macht. Sie bietet viele Vorteile in Bezug auf die Patientensicherheit:
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Funktionen der elektronischen Gesundheitsakte:
- Zentraler Zugriff auf Patientendaten: Ärzte und Pflegepersonal können jederzeit und von überall auf wichtige Informationen wie Diagnosen, Medikamentenpläne, Allergien und frühere Behandlungen zugreifen. Dies reduziert das Risiko von Fehldiagnosen und Medikationsfehlern.
- Medikationspläne: Die eGA ermöglicht es, aktuelle Medikamentenpläne einzusehen und potenzielle Wechselwirkungen zu erkennen, was insbesondere bei Patienten mit mehreren Medikamenten wichtig ist.
- Erinnerungsfunktionen: Patienten werden über fällige Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen oder Arzttermine informiert, was die Prävention und Behandlung von Krankheiten verbessert.
- Sicherheitsalarme: Bei Kontraindikationen, Allergien oder potenziellen Medikationsfehlern können automatische Warnhinweise generiert werden, um das medizinische Personal auf mögliche Risiken aufmerksam zu machen.
Projekte zur Verbesserung der Patientensicherheit
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Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS): Das APS setzt sich auf nationaler Ebene für die Verbesserung der Patientensicherheit ein und entwickelt Leitlinien, Handlungsempfehlungen und Schulungsmaterialien für medizinisches Personal. Zudem organisiert das APS den jährlichen „Deutschen Preis für Patientensicherheit“, bei dem innovative Projekte ausgezeichnet werden.
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„Sicherer OP“ – Projekt zur Operationssicherheit: Dieses Projekt zielt darauf ab, die Sicherheit während Operationen zu erhöhen, indem standardisierte Checklisten und Arbeitsabläufe eingeführt werden. Das „Sicherer OP“-Projekt hat dazu beigetragen, Komplikationen während Operationen zu reduzieren.
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„Gemeinsam für mehr Sicherheit“: Ein Projekt, das Patienten, Angehörige und medizinisches Personal ermutigt, zusammenzuarbeiten und gemeinsam für mehr Sicherheit im Gesundheitswesen zu sorgen. Hierzu gehören Informationsveranstaltungen, Broschüren und Online-Plattformen, die Patienten über ihre Rechte und Möglichkeiten informieren.
Was kann der einzelne Patient tun?
Patienten und ihre Angehörigen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Patientensicherheit. Hier sind einige Möglichkeiten, wie sie dazu beitragen können:
- Aktiv mitwirken: Patienten sollten sich aktiv an ihrem Behandlungsprozess beteiligen, Fragen stellen und sicherstellen, dass sie alle wichtigen Informationen zu Diagnosen, Behandlungen und Medikamenten verstehen.
- Medikationsliste führen: Es ist hilfreich, eine aktuelle Liste aller Medikamente inklusive Dosierung und Einnahmezeitpunkte zu führen und diese bei jedem Arztbesuch mitzubringen.
- Vorbereitung auf Arztbesuche: Patienten sollten sich auf Arztbesuche vorbereiten, indem sie alle wichtigen Unterlagen, Fragen und Informationen über aktuelle Beschwerden oder Vorbehandlungen mitbringen.
- Sicherheitsfragen stellen: Patienten sollten keine Scheu haben, medizinisches Personal zu fragen, ob beispielsweise ihre Identität überprüft wurde oder ob Hygienemaßnahmen eingehalten werden.
Patientensicherheit bedeutet mehr als nur Zahlen und Statistiken – sie steht für das Vertrauen, das wir in die Hände unserer Ärzte, Pflegekräfte und das gesamte Gesundheitssystem legen. Es geht um Menschen, die in ihren verletzlichsten Momenten darauf hoffen, bestmöglich versorgt zu werden. Jeder Fehler kann ein Leben für immer verändern, aber jeder Fortschritt, jedes ehrliche Gespräch und jede lernende Begegnung haben das Potenzial, Leben zu schützen.
Wenn wir die Patientensicherheit wirklich verbessern wollen, müssen wir gemeinsam Verantwortung übernehmen, Empathie zeigen und eine Kultur schaffen, in der Offenheit und Vertrauen im Mittelpunkt stehen. Es ist ein Weg, der Mut und Engagement erfordert, aber auch Hoffnung und die Chance birgt, aus Fehlern stärker und besser zu werden. Denn am Ende geht es darum, dass jeder Mensch in seiner schwersten Stunde darauf vertrauen kann, sicher behandelt zu werden – und genau das ist die Essenz von Menschlichkeit im Gesundheitswesen.